Ortsausschuss Brüser Berg e. V.

Schöne Bescherung

Das Kalenderblatt am 24. Dezember im Adventskalender des Ortsausschuss-Vorstands

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Schöne Bescherung

von Anne Hensgen

"Weihnachten wird jedes Haus ein Freudenhaus." begrüßte meine Großmutter die Ankömmlinge. Meine Schwester Ulrike errötete und kicherte hinter vorgehaltener Hand. Großvater Eugen lächelte nachsichtig.

Stürmisch umarmte ich meine Mutter. Heute Morgen hatte ich das letzte Türchen am Adventskalender geöffnet und Großvater las mir aus dem vergilbten Pergament den Spruch dazu vor. Wenn dieses Türchen offen war, würde meine Mutter kommen. Nun war sie da. Ich war ganz aufgeregt. Weihnachten war etwas Besonderes – meine Mutter kam zu Besuch, es gab einen Weihnachtsbaum, Kerzenlicht, Hasenpfeffer und Geschenke.

Ich half beim Auspacken. Dann wurden Ulrike und ich zum Spielen herausgeschickt. Großvater wollte den Baum schmücken. Wir durften ihn erst zur Bescherung zu Gesicht bekommen.
"So ein Unsinn!" brummelte meine Schwester. "Der Baum sieht doch jedes Jahr gleich aus."
Wir kannten jede der kleinen Holzfiguren, unsere selbstgebastelten Strohsterne, die vier blinden Silberkugeln und den großen Strohstern von Tante Paula an der Spitze. Auch die Krippe war schon da, seit ich mich an Weihnachten erinnerte. Sie bekam jedes Jahr ein neues Dach aus Stroh. Trotzdem freute ich mich, das alles wieder zu sehen.

Eine Stunde später rief uns meine Mutter herein. Im Schlafzimmer zogen wir unsere Feiertagskleider anziehen. Ich hasse Kleider. Sie kneifen überall. Aber Weihnachten ist eben etwas Besonderes. Das Silberglöckchen klingelte im Wohnzimmer. Das war das Zeichen, dass der Weihnachtmann dagewesen war und wir durften reinkommen.

Die Wachskerzen brannten golden. Alles andere Licht war gelöscht. Der verschlissene Weihnachtsschmuck war plötzlich funkelnd und geheimnisvoll. Und lecker sah der Baum aus - Großvater hatte dieses Jahr besonders viele Geleekringel, Schokoladenglöckchen und Wunderkerzen hineingehangen.

"Frohe Weihnachten!" wünschten wir uns gegenseitig. Jeder entzündete eine Wunderkerze. Kleine Glutspritzer fielen auf meine Hand und es roch scharf, aber es leuchtete, knisterte und sprühte so schön.

Dann wurden Weihnachtslieder gesungen. Ich singe meistens schief. Deshalb musste ich die Blockflöte spielen. "Es ist ein Ros´ entsprungen…" Großvater brummte den Bass und Mutter versuchte, die hohen Töne richtig zu treffen. Auch meine Flötentöne kamen etwas schräg heraus, obwohl ich viel geübt hatte. "Am Weihnachtsbaume die Lichter brennen" ging dann schon besser und "Oh Tannenbaum" machte richtig Spaß – sogar meiner Schwester.

Ich schaute verstohlen nach den Geschenken unter dem Baum. Für jeden lag ein Häufchen dort. Für mich war es ein kleines, aber mit vielen Päckchen. Ich war gespannt, ob etwas von meinen Wunschzettel dabei war. Würde ich das, was ich mir am meisten wünschte, diesmal bekommen? Für Ulrike lag ein ganz großes Paket unter dem Baum. Was da wohl drin sein mochte? Mein Geschenk für Mutter lag oben auf ihrem Haufen. Hoffentlich gefiel es ihr. Hoffentlich war es das Geschenk, über das sie sich am meisten freute.

Dann war das Singen vorbei und als nächstes kam das Essen. Ich fand es gemein, so lange mit dem Auspacken der Geschenke warten zu müssen und rutschte ungeduldig auf dem Sofa herum. Zum Essen gab es – wie jedes Weihnachten – köstlichen Hasenpfeffer mit mehligen Kartoffeln und viel dicker Soße.

Ulrike stocherte in ihrem Essen herum. Großvater ärgerte das. Es dauerte nicht lange, und Großvater und Ulrike stritten sich – wie jedes Jahr.
"Nun seid doch friedlich!" sagte Großmutter. "Es ist Weihnachten und Weihnachten ist ein Fest der Liebe."
"Sag das Großvater!" entgegnete Ulrike patzig. "Er hat angefangen!"
Großvater brauste auf: "Schließlich bin ich…" Weiter kam er nicht. Es wurde plötzlich sehr hell, knisterte und es roch verbrannt. Das Strohdach der Krippe hatte Feuer gefangen. Großvater sprang auf, Großmutter lief in die Küche, um Wasser zu holen. Meine Mutter nahm mutig ihr Weinglas und goss seinen Inhalt über das Stroh. Rotwein lief über die Geschenke und tropfte auf den verschlissenen Perserteppich. Aber das Feuer war gelöscht. Dann kam Großmutter aus der Küche mit einem Wasserkessel. Sie wollte gerade Wasser auf die Krippe schütten, als sie merkte, dass das Feuer bereits gelöscht war. Aber sie konnte den Schwung ihres Arms nicht mehr aufhalten und riss mit dem Kessel den ganzen Weihnachtsbaum zu Boden. Nun gab viel kleine Feuer, auf dem Teppich, im Baum - und das Geschenkpapier brannte besonders gut. Großvater riss die Päckchen auseinander und erstickte mit der bloßen Hand die Flammen. Mutter trat die Glut auf dem Teppich aus.

"Eine schöne Bescherung!" klagte Großmutter. Ulrike fing an, zu kichern. Da musste auch ich losprusten. Es war ansteckend. Selbst meine Mutter konnte sich das Lachen nicht mehr verkneifen. Wir lachten, bis uns die Tränen über die Wangen liefen und der Bauch weh tat. Nur Großmutter fand es nicht so lustig. Aber sie lachte aus Höflichkeit mit.

Irgendwann ging der Lachanfall vorüber und wir begannen, den Schlamassel aufzuräumen. Aber die Geschenkhäufchen waren hoffnungslos durcheinander gebracht.
"Sollen wir nicht um die Päckchen würfeln?" schlug Großvater vor. "Wer eine sechs würfelt, darf das Päckchen aufmachen und dann entscheiden wir gemeinsam, wer das Geschenk bekommt."
Das war etwas Neues, noch nie Dagewesenes zu Weihnachten. Es gefiel mir – und den anderen auch.

Also würfelten wir. Ulrike warf als erste eine Sechs. Sie öffnete das größte Päckchen. Es war ein Radio.
"Genau das habe ich mir gewünscht!" jubelte sie.
"Dann sollst du es auch behalten." bestimmte Großmutter und wir nickten.
Als Nächster würfelte Großvater eine Sechs. Er öffnete ein leicht verkohltes rotes Päckchen. Darin fand er ein unversehrtes Paar Lederhandschuhe.
"Wem passen die? Mir jedenfalls nicht!" Sie sahen winzig aus in seinen großen, dick geäderten Händen. Großmutter bekam die Handschuhe zugesprochen. So ging es immer weiter. Ulrike fand eine angebrannte Krawatte für Großvater. Mein Bild für Mutter war halb verbrannt, aber sie freute sich trotzdem sehr. Ich bekam Buntstifte, einen kleinen Stoffhund und einen dicken blauen Pullover.

Ulrike würfelte am häufigsten die Sechs. Sie war es dann auch, die das letzte Geschenk aufmachen durfte. Es war ein Briefumschlag. Er war verbrannt bis auf eine kleine Ecke. Auf der Karte aus dem Umschlag konnte man nur noch "schein" lesen. Ulrike und ich waren ratlos. Aber Mutter lächelte mich an.
"Das ist für dich", sagte sie, "ein Gutschein."
Mir wurde ganz kribbelig im Bauch.
"Ein Gutschein? Wofür?" Sollte wirklich mein größter Wunsch in Erfüllung gehen?
"Ein Gutschein für eine Fahrkarte nach Bonn. Diesmal fährst du mit Ulrike und mir zurück – für immer."
Das war die schönste Bescherung meines Lebens.